Alle Kindernamen wurden verändert.

Beispiel von Hanna Vock, Bonn

In der Kindergartengruppe sitzen die Kinder beim Adventskalender. Für jedes Kind hängt eine Tüte an einer Schnur. Jeden Tag darf ein anderes Kind seine Tüte abschneiden und auspacken.

Wer dran kommt, entscheidet am Vortag das Los: in einer Dose ist für jedes Kind ein Kärtchen mit seinem Garderobenbild. Mittags zieht ein Kind aus dieser Dose ein Kärtchen, ohne hinzusehen. Das Kind, dessen Kärtchen gezogen wird, kommt am nächsten Tag dran und darf sich dann seine Tüte holen.

Daniel (3;5) und Leo (3;6) erleben diese jährliche Prozedur zum ersten Mal. Leo ist ein ganz normal entwickeltes und gut gefördertes Kind, Daniel ist hoch begabt, mit einer Vorliebe für Mengen, Zahlen und logische Zusammenhänge, was sich im Kindergartenalltag später immer wieder bemerkbar macht.

Wenn ich nun frage: „Na, wer ist denn heute dran?“, wissen die älteren Kinder Bescheid und rufen den Namen. Daniel bleibt dann ruhig und gelassen, Leo ist jedes Mal tief enttäuscht, heult auf und fragt mich immer wieder: „Warum nimmst du mich nicht dran?“

Eines Tages bitte ich die beiden Jungen, noch kurz da zu bleiben und stelle (vor der Auslosung für den nächsten Tag) zuerst Leo die Frage: „Na, Leo, glaubst du, dass du morgen dran kommst?“ Leo (strahlend): „Jaaa!“ Nachfrage: „Warum glaubst du das?“ Leo:

„Weil ich das haben will.“

Daniel antwortet auf dieselbe Frage:

„Kann sein, kann auch nicht sein.“

Und auf die Nachfrage: „Wie meinst du das?“ Daniel: „Na, wenn ich nachher gezogen werde, komme ich morgen dran, und wenn nicht, dann nicht. ...Vielleicht komme ich aber auch erst als Allerletzter dran.“

Leo zeigt eine völlig alterstypische Reaktion: sein Denken ist von seinem starken Wunsch beherrscht, endlich dran zu kommen. An jedem Tag ist er aufs Neue gespannt und erwartungsfroh und dann wieder enttäuscht und zunehmend böse auf mich als Erzieherin und fordert von mir, dass ich ihn dran nehmen soll, sodass ich schließlich schummele, um Leo und seine Beziehung zu mir zu entlasten. Die ältesten Kinder merken es, denken sich ihr Teil, lächeln nachsichtig und verständnisvoll.

Das Prinzip des Zufalls versteht Leo noch nicht. Er versteht auch nicht die Erklärungsversuche der älteren Kinder, fühlt sich aber durch ihre Zuwendung teilweise getröstet. Er ist ebenfalls geistig aktiv und versucht sich das Geschehen zu erklären. Da ihm aber das Zufallsprinzip als Erklärungsmuster (noch) nicht zur Verfügung steht und er auch noch keinen klaren Überblick über die Zeitbezüge zwischen den Begriffen „gestern“, „heute“ und „morgen“ hat, ist er sehr im Nachteil. Er kann sich die Tatsache, dass er jetzt wieder nicht dran kommt, nur so erklären, dass irgendwer willkürlich und grade jetzt sein Drankommen verhindert hat. Nahe liegender Weise wird die Erzieherin dafür verantwortlich gemacht.

Daniel durchschaut das System dagegen klar. Auch er zeigt (in den nächsten Tagen) immer wieder Enttäuschung, äußert sie aber anders: „Schon wieder Pech!“ / „O nein, kann denn nicht mal wer mein Bild ziehen?“

Datum der Veröffentlichung: 30.10.08

Beispiel von Hanna Vock, Bonn

Jan (Name geändert) war 6 Jahre alt und in der Grundschule hoffnungslos geistig unterfordert. Er besaß eine Schülerfahrkarte für den Nahverkehr einer Stadt mit über einer halben Million Einwohnern.

Aus dem Besitz der Monatskarte, aus seinem frühen Interesse für Systeme und aus seinem außergewöhnlich guten Gedächtnis bastelte er sich ganz allein eine geistige Herausforderung:

Er fuhr nach Schulschluss nicht nach Hause, sondern begann auf eigene Faust das Nahverkehrsnetz der Großstadt zu erkunden. Darauf verwandte er täglich mehrere Stunden und fuhr erst nach Hause, wenn er genug erkundet hatte, oder wenn Hunger oder Durst zu groß wurden.

Für seine Mutter war dies eine harte Prüfung. Sie hatte den bei Müttern weit verbreiteten und auch verständlichen Drang, dieses unübliche Tun des kleinen Sohnes zu unterbinden.

Jan zeigte sich zwar momentan beeindruckt, aber der Wunsch, dem gespeicherten „Netz“ immer neue Bausteine hinzuzufügen und auf ganz eigene, abenteuerliche Weise etwas zu lernen, erwies sich am nächsten Mittag stets als stärker.

Jedenfalls bildete sich Jan zum Experten , der auch mit Straßenbahn- und Busfahrern ins Gespräch kam und von ihnen auch schon mal um Auskunft für andere Fahrgäste gebeten wurde. Denn in seinem Kopf hatte er alle Linien mit allen Haltestellen und Umsteigemöglichkeiten gespeichert.

Später fühlte er sich genauso stark zur Informatik mit ihren Informations“netzen“ hingezogen.

Jan zeigt uns, dass komplexe Netze für manche hoch begabte Kinder extrem interessant sein können. Und er zeigt auch, dass manche hoch begabte Kinder für sich ganz andere Lernstrategien entwickeln können, als die Grundschule in ihrem Angebot hat. Und Jan zeigt, dass er bei dieser selbst gestellten Aufgabe eine sehr große Ausdauer und Beharrlichkeit entwickeln konnte.

Datum der Veröffentlichung: 30.10.08